Neue Arbeiten

Neue Arbeiten

von Erich Steingräber, 1994

1982 war im Nordiyllands Kunstmuseum im dänischen Aalborg, im Kunstverein Stavanger in Norwegen und abschließend im Alten Herkules-Saal der Münchner Residenz eine Ausstellung "Robert Jacobsen und seine Schüler" zu sehen. Sie gab eindrucksvoll Rechenschaft über die Rolle und das Echo des Lehrers Jacobsen als Leiter der Bildhauerklasse an der Münchner Akademie von 1962-81. Gabriela von Habsburg fiel damals als begabte, von ihrem Lehrer stark geprägte, aber durchaus eigenwillige und originelle Schülerin auf. Werk und Persönlichkeit des großen dänischen Bildhauers, der im letzten Jahr einundachtzigjährig gestorben ist, haben bei vielen jungen Künstlern unauslöschliche Spuren hinterlassen.
Jacobsen war nicht nur ein bedeutender Bildhauer, sondern auch ein her- vorragender Lehrer, der den Beruf des Akademie-Professors sehr ernst genommen hat. Dabei erteilte er seinen Schülern keine "Rezepte", nach denen ein Bildhauer zu arbeiten hatte. Kunst war für ihn nicht lehrbar. Aber die handwerklichen Fähigkeiten, ohne die der Bildhauer nicht auskommt, konnten bei ihm gelernt werden, darüber hinaus seine Auffassung von der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Künstlers in unserer modernen Industriegesellschaft. Ich erinnere mich noch lebhaft an lange Abende mit Robert Jacobsen in den 60er Jahren, oft zusammen mit dem gemeinsamen Freund Sepp Ruf, der Jacobsen 1962 nach München berufen und damit einen Bruch mit der langen Tradition der "Münchner Bildhauer-Schule" an der Akademie herbeigeführt hatte. Die Gespräche kreisten immer um dasselbe Thema: welche Aufgabe hat der Künstler in einer nur noch konsumieren- den weltweiten Massengesellschaft? Unvergesslich die wuchtige, unerschütterliche Gestalt des Dänen, der Künstler, aber auch Schmied war, weil seine Werke aus Eisen geformt sind. Es gab für ihn keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Künstler und Handwerker, zwischen "hoher Kunst" und "Kunsthandwerk".

Noch einen Blick auf die Ahnenreihe, in der die Schüler Jacobsens stehen. Sein Stammbaum hat zwei Wurzeln. Ober die Freundschaft zu Asger Jorn hatte er Anfang der vierziger Jahre Kontakt zu den Mitgliedern der späteren COBRA-Gruppe, deren Erbe sich in der Spontaneität seiner collagierten mythischen Eisen- "Puppen" auf geist- und humorvolle Art fortpflanzt. Die zweite, bedeutendere Wurzel seiner Kunst liegt in Paris, wo Jacobsen 1947 hinkam und im "Salon des realités nouvelles" verkehrte, in dem Auguste Herbin, Sonia Delaunay, Jean Dewasne, Albert Gleizes und in der Plastik vor allem Jean Arp und Antoine Pevsner eine bestimmende Rolle spielten. Es war der auf dem strukturellen Prinzip des Bauhauses basierende abstrakte Gegenpol zur gegenständlichen emotionalen Kunst von COBRA. Die Devise hieß auch für Jacobsen: weg vom Naturbild, Öffnung zum unendlichen Raum und Entmaterialisierung der künstlerischen Mittel. Hierzu eigneten sich die herkömmlichen Werkstoffe Stein, Holz und Terrakotta nur sehr bedingt. Deshalb entschied Jacobsen sich für das Eisen, später auch für Stahl. Damit fügte er sich in die Reihen der internationalen Avantgarde ein.

Archipenko, Pevsner und Naum Gabo gehörten zu den ersten, die den leeren Raum als integrierten Bestandteil des Körpervolumens betrachteten. Die Öffnung zum Raum entsprach dem neuen physikalischen Weltbild der Relativitäts- und Quanten-Theorie. Damit wurde mit dem seit der Antike gültigen Gesetz radikal gebrochen, wonach die menschliche Gestalt, das vornehmste Thema des Bildhauers, sich als geschlossenes Volumen gegen den Umraum abgrenzt. Der Künstler entdeckt in unserer von der modernen Technik verplanten Welt ~ Existenz bis dahin ungeahnter Freiräume, in denen die euklidischen Gesetze und damit unsere optischen Gewohnheiten keine Gültigkeit mehr haben.

Bei diesem Bruch mit der bildhauerischen Tradition spielte Eisen als künstlerischer Werkstoff eine wesentliche Rolle, obwohl er nicht neu ist, denn wir leben, nachdem wahrscheinlich die Hethiter in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. erstmals Eisen als Werkstoff benutzten, heute immer noch im "Eisen-Zeitalter". Man stellte vor allem Waffen, Gebrauchs- und Kulturgeräte her. Eisen war schon damals - wie später im 19. Jahrhundert mit Brücken, Eisenbahn und Hallenbauten - eng an die rasche Entwicklung des technischen Fortschritts gebunden. Der Eiffelturm in Paris ist das weithin sichtbare Wahrzeichen für diesen euphorischen Fortschrittsglauben.

Während vor dem ersten Weltkrieg der Ingenieur begann, mit Hilfe kühner Eisen- Konstruktionen das architektonische Bild unserer Großstädte zu verändern, gab es dann bald auch Bildhauer, die die im Eisen und Stahl latent schlummernden künstlerischen Möglichkeiten entdeckten. Das waren vor allem Julio Gonzales (seit 1910), Alexander Calder (seit 1932), Toni Benetton (seit den dreißiger Jahren), Berto Lardera (seit den vierziger Jahren), Robert Jacobsen (seit 1949), Nino Franchina (seit 1950), Eduardo Chillida, der wohl bedeutendste lebende Bildhauer (seit ca. 1960), Alf Lechner (seit den 60er Jahren) und Pino Castagna (seit den 80er Jahren), um hier nur einige besonders wichtige Künstler zu nennen, die Eisen und Stahl verarbeiten. Von Bildhauern im traditionellen Sinn des Wortes kann man nicht mehr reden. In die von Michelangelo unterschiedenen Kategorien "Skulptur" (Iat. sculpere), die durch "Wegnehmen" vom Block harter Materialien wie Holz oder Stein entsteht, und der "Plastik" (Iat. plasticus), die beim Modellieren durch "Hinzufügen" geschmeidiger Materialien wie Wachs, Tonerde oder Gips entsteht, lässt sich die Bearbeitung von Eisen und Stahl durch Erhitzen, Hämmern, Biegen oder Pressen nicht einordnen. Der Arbeitsprozess gleicht vielmehr dem des Schmiedes.

Eisen und Stahl erlangten in unserem Jahrhundert nicht zuletzt deshalb so herausragende Bedeutung für das künstlerische Schaffen, weil dieser Werkstoff inzwischen überall auf der Welt das Rückgrat der Urbanistik bildet. Kein anderes Material ermöglicht Kunstwerke von Größenordnungen, wie sie unsere aus Raumnot immer mehr in die Höhe schießenden Großstädte erfordern.

Es gab auch andere Strömungen in der europäischen Bildhauerkunst des 20. Jahrhunderts, - insbesondere die von Brancusi ausgehende - aber die hier skizzierte Linie, die sich bis auf Boccioni zurückführen lässt, prägt maßgeblich das Gesicht der gegenstandslosen avantgardistischen Plastik. Ihre abstrakte, universale Sprache kennt keine Grenzen, wird überall verstanden und kann in den urbanistischen Raum integriert werden.

In der hier aufgezeichneten Tradition der modernen Plastik sind auch die Werke von Gabriela von Habsburg verankert, von der die Ausstellung Arbeiten aus den letzten drei Jahren zeigt. Wer frühere Arbeiten von ihr kennt, wird feststellen, dass sich ihre Kunst sehr konsequent in Richtung auf plastische Freiheit, auf die raumzeitliche Auflösung fester Körper, entwickelt hat. Der Raum wird als zentrales Problem definiert.

Die prima idea wird zunächst in einer Skizze festgehalten. Dann folgt ein Bozzetto, meistens aus Holz. Die endgültige Formulierung aber erfahren die konstruktiven Gebilde erst bei der Ausführung, die aus der Addition von vorgefertigten Einzelteilen aus dem Arsenal unserer Industriegesellschaft besteht: das sind runde und vierkantige Rohre, Stangen, Scheiben, Platten und anderem. Schrott-Abfälle hat Gabriela von Habsburg nur in Ausnahmefällen verwendet, z.B. bei "Castor und Pollux". Es gibt auch Kombinationen von Normal- und Edelstahl. Die Teile können verzahnt, ineinandergeschoben oder verschweißt werden. Etwa 80% der Werke sind aus Edelstahl gefertigt, der durch die Chrom-Nickel-Legierung nicht korrodieren kann. Beim Schweißen komponiert der Künstler nicht im traditionellen Sinn nach einem festgelegten Plan, sondern er konstruiert, organisiert das Verhältnis der Einzelteile zum Ganzen. Die Kooperation mit der Industrie bietet sich an. Das Additionsverfahren setzt sich entschieden von allen historischen Techniken plastischer Produktion ab. Bei solcher Genese können sich immer wieder intuitive, spielerische Elemente einnisten. Jedes Werk ist ein Unikat, zumal die gelegentlich angewandten partiellen Verfärbungen des Stahls -rötliche und blaue Töne- mittels der Flamme vorher kaum abzuschätzen sind. Die blauen Schwebetöne drücken die Kälte des Stahls aus, aggressiv hervortretendes Rot hat Bezug zum Element des Feuers. Es werden also keine beliebigen Signalfarben verwendet. Dort wo die konstruktiven Gebilde mittels eines Rostumwandlers eine anthrazitfarbige Oberfläche erhalten, gleicht die silhouettenhafte Wirkung einer Strichzeichnung im Raum. Die Raum- Gebilde sind von allen unnötigen Bindungen an das Material befreit; die alte Forderung nach "Material-Gerechtigkeit" hat ihren Sinn verloren.

Die Anordnung der gleichberechtigten Einzelteile ist hierarchielos. Sie entsteht aus dem Verlangen, der Einheit von. Raum und Zeit und damit unserem modernen Lebensgefühl eine Form zu geben. Die Skelette der plastischen Gebilde gehen von einfachen geometrischen Grundformen wie Würfel, Kugel, gleichschenkeligem Dreieck, Kreis oder Quadrat aus. Die gesetzmäßige Schönheit der Geometrie leuchtet noch durch die provozierend "gestörte" Ordnung. Es gibt schwingende Raumkurven, die Spannkräfte sichtbar machen, Gegensätze von Statik und Dynamik, von Begrenzung und Bewegung; es gibt kühne Balance-Akte, die aber nie der Kontrolle entgleiten. Dort wo Kurven und Ecken zusammenstoßen, wird "das Prinzip von Leben und Tod sichtbar" (Robert Jacobsen). Der Fortfall der Plinthe hat die Raum-Konstruktionen "bodenlos" gemacht. Die Spielungen der "Bodenbilder" unterstützen diesen Einblick. Solche "labilen" Zustände schließen Beweglichkeit, Veränderlichkeit ein, die Möglichkeit der Auflösung alter Ordnungen und Normsysteme. Durch die Irritation der Vorstellungskräfte des Betrachters werden diese umso mehr mobilisiert. Vom in das Kräftespiel des Kunstwerks einbezogenen Betrachter wird ebenfalls Beweglichkeit gefordert. Er ist kein passives Gegenüber, sondern ein neugieriger Teilnehmer an den Exkursionen in einer terra incognita mit unvertrauten Formbezügen, deren Gleichgewicht bedrohlich gefährdet ist. Die Störung der Ordnung dient der Sensibilisierung unserer konformistisch gelähmten Sinne. Sie ist konstruktiv, nicht destruktiv. Die humane Dimension bleibt im Werk Gabriela von Habsburg erhalten. Dafür zeugen manche Titel ihrer Werke, auch wenn diese völlig unliterarisch sind und nie etwas "abbilden". Oder suggeriert das Werk "Romeo und Giulietta" doch eine zarte Umarmung?

Mit ihrem groß dimensionierten neuesten Werk, von dem es bisher nur ein Modell gibt, betritt die Künstlerin nun auch den urbanen Freiraum. In Anlehnung an die Form der berühmten Kühler-Front des alten Bugatti soll vor der Auto-Fabrik bei Modena eine Stahl-Plastik aus wabenförmig durchbrochenen Lamellen aufgestellt werden, durch die geräuschvoll der Wind streichen und daran erinnern wird, dass die Geschwindigkeitseuphorie vergangener "futuristischer" Zeiten am Anfang eines neuen Weltbildes stand, das uns die vierte Dimension beschert hat.

Erich Steingräber im Katalog 'Interkolumnie', 1994