Die verdünnten Kristalogien von Gabriela von Habsburg

Die verdünnten Kristalogien von Gabriela von Habsburg

von Riccardo Caldura

In der Geschichte der Skulptur des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Spannung zwischen Kunst und Technik, wenn man es einmal so sagen darf, noch stärker ausgeprägt als in der Malerei. Die Skulptur hat in der Tat mit dem "Stehen" von Körpern und Volumen zu tun, und die Voraussetzungen für dieses "Stehen" haben durch den Einbruch in unsere Gesellschaft von neuen Materien, industrieller Bearbeitung und neuen Produkten, die dem Künstler eine tiefgreifende Neuerung seines Status abverlangten, eine radikale Änderung erfahren

Man braucht dabei nur an die Strukturen aus Eisen/Gusseisen zu denken, an deren Einsatz zusammen mit Glas (Walter Benjamin spricht eingehend darüber in seinem Paris, der Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts, gewidmeten Artikel), und dann an Stahl, Aluminium und all die anderen sich daraus ergebenden Legierungen. Die Technik hat im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eine große Menge neuer Materialien und Bearbeitungsmethoden eingeführt, die unsere Lebensgewohnheiten wesentlich verändert haben. Von der architektonischen Makrostruktur bis zum Gebrauchsgegenstand. Stein, Bronze und Holz wurden nach und nach immer mehr an den Rand geschoben, wurden zu Edelstoffen, die nunmehr sozusagen zur "Archäologie" der Kunst gehören. Der Anstoß der futuristischen Idee, "Bewegung und Licht zerstören die Stofflichkeit der Körper", (Punkt 4 des" Manifesto Tecnico" der Futuristen) gab Anlass zu einer progressiven Verflüchtigung der festen Form, und das "Stehen" der Skulptur änderte sich grundlegend.

Neue industrielle Verarbeitungstechniken, neue Stoffe, die Kinetik, die Transparenz, sind die Elementen, aus denen die Geschichte der Skulptur des zwanzigsten Jahrhunderts neu geschrieben werden könnte. Die Arbeit von Gabriela von Habsburg gehört voll und ganz in dieses künstlerische Klima und übernimmt den Horizont der Moderne als Bezugspunkt.Unter der Anleitung von Robert Jacobsen, ihrem ersten und wahrscheinlich für sie wichtigsten Lehrer an der Akademie der bildenden Künste in München, ist als wesentlicher Bezugspunkt ein Einfluss der Gebrüder Pevsner zu spüren und somit die Problematik des Verhältnisses zwischen Kunst und Technik in den verschiedenen Abwandlungen des europäischen Konstruktivismus.

Durch den Anstoß der außergewöhnlichen Änderungen des Produktionswesens musste die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Daseinsgrund neu überdenken. Die Entdeckungen im Ingenieurwesen und der Architektur zogen eine Zentralisierung der Funktionsidee nach sich. Für die russischen Avantgardisten, im Besonderen für die Konstruktivsten von Tatlin bis Rodtchenko, war eine Abwandlung der art pour I'art nicht mehr denkbar. Majakovskij, solidarisch mit ihnen, sprach von einer notwendigen Anpassung der Kunst an die Gesellschaft und dehnte die Funktionsidee noch weiter auf eine Notwendigkeit im Sinne einer Art von Sozialfürsorge aus, die zur allgemeinen Emanzipierung beitragen sollte. Rodtchenko widmet sich dann der Graphik als Instrument der Massenkommunikation und dem Design als Instrument zur Umstrukturierung von Wohneinheiten in einer Gesellschaft, die nach der Überwindung von Klassenunterschieden strebt. Diese funktionelle Abwandlung der Kunst, die sich anpasst und sich sogar zur Vorläuferin für technische Innovationen erhebt, versteht sich jedoch nicht als die einzige Position innerhalb der Avantgarde, die auf unterschiedliche Weise dem Konstruktivismus und dem Realismus zuzuschreiben ist.

Die Gebrüder Pevsner eröffnen mit dem "Realistischen Manifest" 1920 eine neue Orientierung. Bei den aktuellen Materialien sind formale Prinzipien zu berücksichtigen, die viel mehr mit einer höchst freien Interpretation der Dynamik im Raum zu tun haben, als mit einem Rückfall in das Funktionale. Es entsteht so ein fruchtbarer Boden für eine eigene künstlerische Interpretation der Materialien und Techniken, mit jener besonderen abstrakten Bedeutung, die auch die dreidimensionalen Werke dieser Jahre übernehmen. Es ist fast so, als suche man nach einem erweiterten Raum in der Kunst, unter Billigung und nicht unter einer anachronistischen Ablehnung der technischen Innovationen. Dabei ist jedoch in jedem Falle zu vermeiden, dass der Künstler sich einer dem technisch - produktiven System eigenen Berufstätigkeit unterwirft und dazu eine eindeutige, klar erkennbare soziale Funktion übernimmt, die bekannter weise gemäß den politisch- ästhetischen Utopien der Avantgarde maßgebend ist. Ähnlich wie in der abstrakten Kunst kristallisiert sich hier eine Möglichkeit zum Fortbestehen der Skulptur heraus, und das in einer Welt, die von der Technik als Rettung für formale Prozeduren bezeichnet wird, die sich ihrerseits nicht in der Funktionstüchtigkeit des Produkts erledigen. Die so konzipierten Werke werden eigentlicher durch das, was sie nicht sind definiert, als durch das, was sie sind: Es sind keine ästhetisch - funktionellen Produkte, wie sie typisch sind für das Design, es ;sind keine schon fertigen Gegenstände, die (entsprechend der Logik des ready-made von Duchamps) übernommen und teils abgeändert ausgestellt werden, und es sind keine Werke, die sich auf die westliche Tradition der Plastiken beziehen ließen. In der von all diesen "Negationen" befreiten Sphäre zeichnet sich eine zeitgenössische Skulptur ab, die von den physischen und dynamischen Eigenschaften der Materialien ausgeht und gegenüber allen Darstellungsmöglichkeiten dessen indifferent ist, was der eigentliche Gegenstand einer Skulptur war, nämlich der menschliche Körper. Im Bereich der Natur ist es, wenn überhaupt, das Reich der Mineralien, das als Bezugspunkt angesehen werden könnte. Die Kunst und im Besonderen die Skulptur bekommt kristallographische Bedeutung.

Es sind jedoch Kristallographien, die keine Gegenstücke in der Natur haben, sie entstehen aus der Kombination von vollkommen ungewöhnlichen Stoffen (Aluminium, Plexiglas, Stahl). Es handelt sich eher unreine Neonatur, die sich hier im Bereich der zeitgenössischen Skulptur abzeichnet. Sie ist unfunktionell, gerade weil sie nicht aus der humanistischen Dimension entstand, die auch weiterhin den Menschen als Maß aller Dinge in den Mittelpunkt des technischen Kosmos stellt. Dass Kunst mit einer kosmologischen Dimension in Zusammenhang steht, und dass die sogenannte "grüne Welt", in der wir leben, nur eine besondere historische Form in der Entwicklungsgeschichte der Natur zu höheren Formen ist, in der es keine Dekadenz der Körper und keine Korruption der Elemente mehr gibt, sind Intuitionen, die schon in den Schriften von Malevic durchblicken, um damit anzudeuten, wie die Funktionsidee schon im Bereich des russischen Konstruktivismus nicht mehr als eine der möglichen Bedingungen im Verhältnis zwischen Kunst und Technik war, und gewiss nicht die einzige oder gar die radikalste.

Was erkundet werden konnte, war, abgesehen vom funktionellen Bereich, die eisige Lyrik der Perfektion der Mineralien, die harmonische Verbindung untereinander von unvergänglichen Neomaterien. Das plastische Werk in eine kosmologische Dimension zu projizieren, ist eine Konstante in den Werken Gabrielas von Habsburg, und einige Titel ihrer Arbeiten aus den frühen 90er Jahren unterstreichen diese Absicht der Künstlerin: Aldebaran, Cassiopea, Photon, Wega. Das Zurückgreifen auf industrielle Halbfertigteile ist nie im Sinne einer Funktionalität zu verstehen, sondern als dynamische Spannung. Die Starre von Stahl wird gegliedert und gibt sich als Zeichen im Raum. Das "Stehen" der Skulptur wird von seinem scheinbar prekären Gleichgewicht in Frage gestellt, so als ob es im Fallen wäre oder in der Spannung zur Leere Boden gewänne. Statt von Skulpturen sollte man vielmehr von räumlichem Zeichnen sprechen, das keinen Körper abgrenzt, sondern nur virtuelle Räume, die durch das Überschneiden von Flächen erzeugt werden und ihrerseits durch dynamischen Linien in der Leere entstanden. Die Stahlstangen, die oft von der Form und der Stärke an Profile eines Rahmens erinnern, grenzen transparente Flächen ab. Das dynamische Gleichgewicht und die insgesamt prekäre Stabilität der Skulpturen scheint den Moment der jähen Kristallisierung der Dynamik der Elemente zu fassen. Es gibt keine ausdrücklichen Symmetrien und ebenso wenig gibt es bevorzugten Blickpunkte.

Die Strukturen von Gabriela von Habsburg ruhen gerade eben entlang feiner Diagonalen, die den Kontaktpunkt mit dem Boden auf ein Minimum an statischer Möglichkeit begrenzen. Teils können die Skulpturen gedreht werden, und folglich ändern sich die Punkte und Aufsatzlinien, ohne dass dadurch die Integrität des Ganzen beeinflusst würde. Die Reversibilität der Stützen deutet auf die Zufälligkeit des Verhältnisses zur Fläche, oder, wenn man so will, der "Erd"-Oberfläche. Und es ist eine Reversibilität, die zeigt, wie die Skulptur auch vom Betrachter bewegt werden kann, eine Eventualität, die vor allem für die Serien kleiner Skulpturen gilt, wie Wega, aber auch für Skulpturen größeren Ausmaßes. Das sich daraus ergebende "Fallen" ist die im physischen Sinne kritische Lage des "Stehens" der Skulptur, eine Konsequenz, die als mögliches Ereignis akzeptiert werden kann, was jedoch die wesentliche Unveränderbarkeit des Mineralkörpers (nicht beeinträchtigt, denn dieser hat keine bevorzugten Seiten oder Stützpunkte. Es ist, als ob die Perfektion des Minerals kein Fallen oder keine Veränderung fürchte. Fallen ist im Bereich der Mineralien und der Kosmologie ein rein physisches Ereignis und ruft keinerlei ,metaphysische' Veränderung in der Lage des Gegenstands hervor. Es gibt kein Vergehen der Körper, ebenso, wie es im Bereich der Mineralien und dem Kosmos keinen Tod im anthropologischen Sinne gibt.

Die Bildhauerin legt größten Wert auf eine aufmerksame Oberflächenbehandlung der Skulpturen. Sie verleiht der Oberfläche durch Steigerung der Luminosität und der Lichtbrechung Ausdruck. Die Oberfläche von Stahl z.B. wird akkurat poliert und beim Eisen in seinem natürlichen Zustand belassen. Es entsteht so ein Kontrast zwischen den Farbnuancen der metallenen Oberfläche, wie bei "Castor und Pollux" von 1994. Die gleiche Aufmerksamkeit wird auf die Verbindungspunkte zwischen den einzelnen Teilen gelegt. Die Schweißlinien sind kaum wahrnehmbar, so dass die fließende Bewegung der Stangen, fast als gehörten sie zu einem Organismus, noch eindeutiger wird. Es scheint, als werde das Metall durch das Verschweißen so zurecht- gebogen, dass die Gesamtharmonie der kristallographischen Stellung noch unterstrichen wird. Man könnte beinahe von seiner Selbstzeugung sprechen. Die Künstlerin sorgt tatsächlich in der Endphase des Werks dafür, dass alle durch die Ausführung von Hand verursachten Mängel entfernt werden. Das Werk muss perfekt erscheinen, denn es wurde nicht nur aus zarten Harmonien der Natur erzeugt, sondern erzeugt sich selbst.

Das Schönheitsideal, das aus den Werken von Gabriela von Habsburg entsteht, deutet auf Unvergänglichkeit, samt der Indifferenz gegenüber dem metaphysischen Pathos des "Fallens" (was dagegen als reiner physischer Zufall aufgefasst wird) und mit dem Rhythmus der perfekten dynamischen Suspension von Schwerkraft und Spannung. Das etwas vom Tanz der Elemente im freien Schweben der zweidimensionalen Flächen liegt, war das formelle Ergebnis der visuellen Lyrik des Suprematismus, so wie in den zahlreichen Varianten des Proun von EI Lissitzky. So, wie die Pevsners es wollten, lag tatsächlich außer der Funktionalität viel mehr im .Verhältnis von Kunst und Technik. Gabriela von Habsburg handelt folgerichtig, man könnte fast sagen, sie eifert einem klassizistischen Ideal nach, das unter der abstrakten Perfektion des Dynamismus der Materie liegt. Sie hat im Sinn einen neuen Metalltanz aus instabilen, kinetischen Gleichgewichten, die mit Hilfe großer Stahlstangen in einem ihrer Werke aus dem Jahre 1997 eine Figur zu neuem Leben erwecken, die schlechthin als Perfektion der Bewegung aus der großen Tradition der westlichen Plastik gilt: Die drei Grazien. Auf einer Ebene der Mineralien kann diese antike Schönheit des menschlichen Körpers auf die Dimension von Gestein und Kosmologie übertragen werden. Die unvergänglichen, absoluten Körper sind zart und geben der Leere Form. Es sind keine Jungfrauen mehr, sondern verdünnte Kristallographien.

Riccardo Caldura in dem Katalog 'Levitas', 2000, ISBN 3-905639-00-9